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Zen-Meister Reiko Mukai Osho und Hinnerk Syobu Polenski

Von der Form in die Freiheit

Von Fleur Sakura Nenge Wöss

Das Leben spielt sich für viele von uns zwischen zwei Extremen ab. Auf der einen Seite steht das Strukturierte, Geordnete, das uns Kontrolle und Übersicht erlaubt und auf der anderen Seite das Spontane, Chaotische, das Entwicklungsschritte ermöglicht und uns das Gefühl des lebendig Seins vermittelt.

Das Strukturierte, Geordnete ist bei vielen Menschen negativ besetzt. Es erinnert an enge Zeiten, an Gehorsam, Militarismus und „alle über den gleichen Kamm scheren“. Die „Form“ stößt daher zunächst einmal bei Zen- Einsteigern auf große Skepsis. Die „Form“ im Zen, vor allem in der Trainingsperiode des Sesshin, also in Zeiten mehrtägiger konzentrierter Zen-Übung, ist die Art und Weise wie wir „sitzen“, wie wir uns im Zendo bewegen, wie wir essen und gehen.

Ausgehend von der Sitzmeditation wird in einem Sesshin alles Übung. Die Form ist die Leitlinie, wie wir uns in der Übung vervollkommnen. So wie ein Slalomfahrer viele tausende Male den Hang gleich hinunterfährt, und so seine ideale „Form“ findet, so unterstützt uns die Zen-Form, uns immer mehr auf unseren Körper zu verlassen. Tausendmal das Zendo betreten, verbeugen und die Matten entlang gehen – und jede Zelle lernt dabei, die Bewegung mit 100% Bewusstheit zu vollziehen. In diesem Prozess bleibt die Form nicht das Extrem des Strukturierten, Geordneten, sondern in der Form verbindet sich das Strukturierte mit dem Lebendigen, der Geist mit dem Körper, der Wille mit der Absichtslosigkeit. Die zwei vermeintlichen Extreme werden eins, die Form füllt sich mit Leben.

Die Form hat drei Aspekte durch die sie unsere Zen-Übung unterstützt.

Konzentration

In der Zen-Übung geht es um wache Konzentration. Die richtige Haltung beim Sitzen und das Verhalten im und außerhalb des Zendo unterstützt genau diese Konzentration.

Wenn alle das Gleiche tun, müssen wir nicht über unwesentliche Dinge nachdenken, und wir können uns konzentrieren. Im Gegensatz dazu sind wir im Alltagsleben dauernd mit neuen Eindrücken konfrontiert. Wir sehen die Menschen in der Straße, die Werbung auf einem Plakat, die Bewegung der Autos. All dies produziert Eindrücke, die wir dauernd wahrnehmen, bewerten und verarbeiten müssen. In den Sitzrunden und ganz besonders in einem Sesshin soll diese Arbeit der dauernden Informationsaufnahme zur Ruhe gebracht werden. Die Form ermöglicht uns, uns in der Stille nur auf ein Ding zu konzentrieren, nämlich in der Übung zu bleiben.

Klarheit

Wenn jeder im Zendo das Gleiche tut, ist es nicht notwendig zu denken „warum verbeugt sich diese?“ oder „soll ich schnell oder langsam die Matten entlang gehen?“ Aus der konzentrierten Form aller Teilnehmer entsteht eine Form der Gesamtheit. Die Bewegungen jedes einzelnen reduzieren sich nach und nach auf das Notwendige. Es ertönt das Klangsignal und wir setzen uns. Ohne hin und her zu schauen, ohne diese und jene Falte noch einmal und noch einmal zu richten. Aus der Reduktion der Ablenkungen entsteht ein klarer Raum. Diese Klarheit nimmt bei einem Sesshin von Tag zu Tag zu. Die innere Klarheit, die auch mit der Beruhigung der Gedanken von Stunde zu Stunde zunimmt, spiegelt sich in der zunehmenden Klarheit der äußeren Form wieder.

Sicherheit

Die Abläufe wiederholen sich, das Programm eines Sesshins bleibt zu 90% gleich. Wir müssen uns nicht mehr damit beschäftigen, um wie viel Uhr was geschieht. Das Essen ist zur gleichen Zeit. Der Beginn des Zazen bleibt immer gleich. Ein Rhythmus entsteht. Wir fühlen uns in diesem Rhythmus geborgen.

Wir wissen, dass die Jikijitsu, der oder die Verantwortliche im Zendo, alle 25 Minuten die Runde ausläutet. Wir kennen den Rhythmus, wir kennen die Form. Die Gedanken, WIE etwas zu tun ist, werden weniger. Die Form gibt Sicherheit. Es ist möglich, sich in die Form „fallenzulassen“, sich sicher zu fühlen.

So entwickeln viele Zen-Neulinge im Laufe eines Sesshins langsam ein Verständnis für die praktischen Aspekte der Form. Nach einigen Jahren der Zen-Praxis verstehen wir, dass die Form es uns ermöglicht, durch das Tor der Form in die Nicht-Form zu gehen. Oder wie der chinesische Zen-Meister Mazu Daoyi (Baso Doitsu, 8. Jh.) sagte: „In die Form hineingehen, aus der Form herausgehen und Freiheit erlangen.“

Zur Autorin:

Fleur Sakura Nenge Wöss, Meditationslehrerin des Daishin-Zen und Leiterin des Daishin Zen-Zentrums Wien. Dr. Fleur Wöss ist Vortrags-Coach und Lehrbeauftragte für Japanologie. Sie ist seit vielen Jahren Schülerin von Hinnerk Syobu Polenski, sie leitet und gestaltet Sesshins des Daishin Zen. Fleur Wöss ist Autorin von „Der souveräne Vortrag“, Linde-Verlag Wien 2004 und „Nippons neue Frauen“, Rowohlt 1990, sowie von zahlreichen Fachartikeln wie z.B. „Mit Zen zum gelassenen Redner“, in: Nikolaus B. Enkelmann (Hg.): Die besten Ideen für erfolgreiche Rhetorik, Gabal 2011. Sie übersetzte die Novelle „Sawako Ariyoshi: Die drei Alten“, Galrev Verlag 1989.